Kunstsammlung NRW
Der Löwenmensch nach Abschluss der Restaurierung 2013 © Landesamt fur Denkmalpflege im RP Stuttgart, Foto: Yvonne Mühleis

"Der Löwenmensch" – Besucher aus der Eiszeit

#32 verlässt die Pfade der Moderne: Für das Online-Magazin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen besuchte Gerd Korinthenberg auf dem Weg in den Süden Deutschlands das Museum Ulm und betrachtete den eiszeitlichen „Löwenmenschen“ – eine der frühesten figürlichen Darstellungen der Menschheit.

Er stammt aus einer unvorstellbar fernen Welt, als die Grenze zwischen dem Reich der Tiere und der Menschen noch nicht klar gezogen war: Der fast 40 000 Jahre alte „Löwenmensch“, geschnitzt aus dem Stoßzahn eines jungen Mammuts, ist nach dem jüngsten sensationellen Fund neuer Elfenbein-Bruchstücke in einer Höhle der Schwäbischen Alb jetzt so vollständig wie nie im Ulmer Museum ausgestellt.

Die größte Plastik der Eiszeitkunst

"Der Löwenmensch ist die größte Plastik der Eiszeitkunst und zählt zu den frühesten figürlichen Darstellungen der Menschheit", beschreibt der Ulmer Archäologe Kurt Wehrberger dieses ganz besondere Kunstwerk, das beinahe zehn Mal älter als die ägyptischen Pyramiden ist. Die rätselhafte, gut 31 Zentimeter große Skulptur stammt aus der jüngeren Altsteinzeit, als nach der Epoche des Neandertalers der "anatomisch moderne Mensch" als direkter Vorfahr der heutigen Weltbevölkerung langsam in Europa heimisch wurde.

Schon 1939 im Lonetal bei Ulm entdeckt, vor dem Hintergrund der Kriegswirren zunächst vergessen, dann in den späten 1980er Jahren erstmals – aber unvollständig – restauriert, zeigt die Figur eindeutig ein aufrecht stehendes Mischwesen, halb Mann, halb Raubtier. Nachdem seit 2009 am alten Fundplatz überraschend weitere mehrere hundert Elfenbein-Splitter ausgegraben werden konnten, ist der spektakuläre Urahn aller Kunst nun zu zwei Dritteln vollständig und scheint direkt dem kantigen Kanon expressionistischer Bildhauerei entsprungen zu sein. Breit und gefährlich die Raubtier-Schnauze, Pranken an den herabhängenden Vorderläufen, der muskulös-männliche Unterleib auf kraftvollen Beinen. Ein kleiner, kreisrunder Bauchnabel ist deutlich, ebenso tiefe Kerben auf einem der Arme als mögliche magische Tätowierung.

Totemistisches Idol oder Abbildung eines Schamanen?

Ist dieser Besucher aus der Eiszeit ein totemistisches Idol, das für die Eiszeitjäger einen verehrten, tierischen Vorfahren darstellt, wie es noch heute bei den Ureinwohnern Australiens bekannt ist? Oder ist es die Abbildung eines Schamanen, der sich Schädel und Fell eines Löwen übergestreift hat, um in Trance und mit der Kraft eines Löwen in eine andere, von Tieren bestimmte Welt einzutauchen? Dies bleibt wohl auf immer ein Rätsel. Klar ist jedoch, dass der Eiszeit-Schnitzer, der vor Urzeiten mit scharfkantigen Steinklingen und -sticheln den „Löwenmenschen“ geschaffen hat, ein genauer Beobachter, ein wirklicher Künstler und ein Kenner von Tier und Mensch gewesen ist.

Gerd Korinthenberg ist Leiter der Abteilung Kommunikation der Kunstsammlung und seit langem fasziniert von der Kunst fremder Völker.

www.ulmer-museum.ulm.de/‎

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