Kunstsammlung NRW
Francisco Copello, Calendário, 1974, Museu de Arte Contemporânea da Universidade de São Paulo, Brazil
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Das vertraute Fremde – Eine Ausstellung lateinamerikanischer Kunst in São Paulo

Brasilien ist flächenmäßig das fünftgrößte Land der Welt und nimmt beinahe die Hälfte der Gesamtfläche Südamerikas ein. Es hat mit jedem südamerikanischen Staat – außer mit Chile und Ecuador – eine Grenze. Doch nicht nur die ausgedehnten Ur(wälder) und Sümpfe, auch der sprachliche Unterschied von Portugiesisch und Spanisch trennen das Land von seinen Nachbarn. „Lateinamerikanisch“ bezieht sich auf eine vertraute Andersartigkeit aus Sicht der Brasilianer.

Die Ausstellung „Vizinhos distantes“ („Ferne Nachbarn“) im Museum für zeitgenössische Kunst der Universität von São Paulo zeigt die hybride, multikulturelle und heterogene Vielfalt künstlerischer Produktion Südamerikas während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die rund 250 Werke aus den Bereichen Malerei, Skulptur, Installation, Fotografie, Video und Performance entstammen dem Sammlungsbestand des Museums.

Ein Fokus der Ausstellung liegt auf den 1970er Jahren – einer Zeit, in der in verschiedenen südamerikanischen Staaten Diktaturen herrschten und zahlreiche Künstler nach alternativen künstlerischen Kommunikationsformen suchten, wie zum Beispiel Performances an öffentlichen Plätzen oder gemeinschaftliche Publikationen. Der dokumentarische Charakter zahlreicher ausgestellter Objekte verdeutlicht eine gemeinsame Tendenz der Künstler: mit wenigen Mitteln sowohl ästhetische als auch politische Strategien zu verfolgen.

Melanie Vietmeier traf Cristina Freire, die Kuratorin der Ausstellung, vor Ort.
Ein Interview für #32.

 

 

Sergio Meirana, Superfícies de Memória, 2008, Museu de Arte Contemporânea da Universidade de São Paulo, Brazil

#32: Kann man verallgemeinernd von „lateinamerikanischer“ Kunst sprechen angesichts der Größe des geografischen Raumes des Kontinents und seiner multikulturellen Vielfalt?

Freire: Die Kategorie „lateinamerikanisch“ funktioniert nicht wirklich gut. Sie wird als Arbeitsbegriff verwendet, um viele extrem verschiedene kulturelle Hintergründe zusammenzufassen, die hinsichtlich einer historischen kolonialen Vergangenheit eine Beziehung haben. Ich ziehe es vor von Kunst aus Lateinamerika zu sprechen...

Horacio Zabala, Integração de Linguangens Poéticas Experimentais com Investigações Sociais e Econômicas, 1974, Museu de Arte Contemporânea da Universidade de São Paulo, Brazil


#32: Wie ist das Verh
ältnis von Brasilien zum Rest Lateinamerikas?

Freire: In Brasilien impliziert “Lateinamerika” eine Art Fremdartigkeit. Es ist eine Kategorie, über die kein Konsens herrscht. Wir betrachten uns nicht als Lateinamerikaner, wir sprechen im Gegensatz zu unseren Nachbarn nicht spanisch, sondern portugiesisch, um nur einen Unterschied zu nennen... Ich denke, dass das ein Teil des Bemühens ist, einen Unterschied zwischen verschiedenen politischen, historischen und sozialen Hintergründen, verschiedenen Kulturen und so weiter zu konstatieren. Schließlich ist es eine Frage der Geopolitik der Repräsentation – nicht nur in der Kunstgeschichte.


#32: Fühlen sich brasilianische Künstler als lateinamerikanische Künstler?

Freire: Ich denke, diese Frage stellen sich brasilianische Künstler nicht. Es ist eher eine externe Perspektive, die die Unterschiede vernachlässigt. Aber natürlich sind diese geopolitischen Aspekte heutzutage sehr relevant. Grenzen, Immigration – all diese Themen sind hier genauso virulent wie an anderen Orten. Wir sind ein Land von Einwanderern, Afrikanern und indianischen Ureinwohnern, die alle einen konstitutiven Teil unserer kulturellen Vielfalt darstellen. Diese Themen stehen für uns sowohl mit einer spezifischen Vergangenheit als auch mit einer zukünftigen globalen Perspektive in Beziehung.

Ausstellungsansicht, links das Gemälde von Antonio Segui Difícil de subir, 1984, Museu de Arte Contemporânea da Universidade de São Paulo, Brazil, Foto: Ana Paula Monteiro


#32: Im Vorfeld der Ausstellung hat die Forschungsgruppe GEACC (Grupo de Estudo de Arte Conceitual e Conceitualismos) unter Ihrer Leitung dokumentarisches Material zur Konzeptkunst der Jahre 1960-80 in Lateinamerika aufgearbeitet und in einer begleitenden Publikation veröffentlicht. Wie spiegelt sich das in der Ausstellung wieder?

Freire: Die Idee war, nicht nur die Ergebnisse des Forschungsprojekts zu den Sammlungsbeständen der 1960er und 70er Jahre zu präsentieren, sondern auch die Frage nach den Konstruktionen und Repräsentationen lateinamerikanischer Kunst und Kultur – in Brasilien und im Ausland – im 20. und 21. Jahrhundert zu stellen. Es gibt zum Beispiel Künstler in der Ausstellung, die für den Surrealismus in Lateinamerika sehr wichtig waren, etwa Roberto Matta, und Wilfredo Lam, ein kubanischer Künstler, über den gerade im Centre Pompidou in Paris eine große Retrospektive gezeigt wird.

Desweiteren sind in der Ausstellung Arbeiten von Antonio Segui, dem bekannten argentinischen Künstler, und von Sérgio Meirana, einem jungen Autodidakten, zu sehen. Diese beiden Künstler werden beispielsweise nebeneinander präsentiert, um das Thema von Kunst und Kunsthandwerk anzureißen. Diese Diskussion habe ich auch versucht zu eröffnen, um die Konstruktion des vorherrschenden westlichen Kanons der Kunstgeschichte zu hinterfragen.

Ausstellungsansicht, links die Skulptur von Eduardo Ramírez Villamizar, Construção Vermelha, 1969, Museu de Arte Contemporânea da Universidade de São Paulo, Brazil, Foto: Ana Paula Monteiro


#32: Die Ausstellung ist weniger chronologisch, sondern vielmehr thematisch angelegt. Welche Kategorien liegen dem Ausstellungsparcours zu Grunde?

Freire: Unsere Sammlung war der Ausgangspunkt für die Überlegung, in welche Teile sich die Ausstellung gliedern könnte – zunächst Identität. Ein weiterer Teil der Ausstellung ist dem geometrischen Konstruktivismus gewidmet, der auch mit der Op-Art verknüpft ist und die Idee beinhaltet, eine neue Gesellschaft zu formen. Daher zeige ich Werke von Jesús Soto aus Venezuela sowie von Omar Rayo und Rafael Villamizar, beides bedeutende konstruktivistische Künstler aus Kolumbien. Einige der Arbeiten haben Preise bei der Biennale von São Paulo gewonnen.

Der zweite Teil der Ausstellung stellt eine Art Antagonismus dazu dar: die Konzeptkunst der 1960er und 70er in unserer Sammlung. Die konzeptuellen Praktiken in den Ländern Südamerikas stehen in enger Beziehung zu den diktatorischen Regimen in den verschiedenen Staaten und fanden ihren künstlerischen Ausdruck in avantgardistischer Literatur und Dichtung. Daher adressierten visuelle Poesie, Manifeste, Textinstruktionen und Performances nicht selten die Situation der Zensur – etwa die Kartografien von Horacio Zabala, dem argentinischen Künstler, der mit Landkarten arbeitet. So gibt es unterschiedliche Arten von Herangehensweisen an die damalige Situation auf dem südamerikanischen Kontinent. In diesem Teil der Ausstellung habe ich versucht zu zeigen, dass die 1960er und -70er Jahre immer noch als Referenz für junge Künstler dienen, die heute auf diesem Kontinent arbeiten.

Jesús Rafael Soto, Vibração, 1963, Museu de Arte Contemporânea da Universidade de São Paulo, Brazil
Ausstellungsansicht, im Vordergrund Skultpur von León Ferrari, Sem titulo, s.d., Museu de Arte Contemporânea da Universidade de São Paulo, Brazil, Foto: Ana Paula Monteiro


#32: Bisher wurde häufig nur der Einfluss der nördlichen Hemisphäre (Europa und Nordamerika) auf die lateinamerikanische Kunst untersucht. Wie gestaltete sich hingegen künstlerischer und kultureller Austausch auf der Süd-Süd-Achse innerhalb Lateinamerikas?

Freire: Natürlich ist ein Teil des politischen Engagements eines Wissenschaftlers, die kolonialen Vergangenheit innerhalb des Diskurses zu hinterfragen. Mit anderen Worten: Ich denke, wir sollten versuchen, auf diesem Kontinent theoretische Felder aufzuspannen und kunsthistorische Forschungsprojekte zu entwickeln und von diesen ausgehend die Vergangenheit zu verstehen und die Zukunft zu projizieren. Das ist Teil meiner akademischen Arbeit, insbesondere da das Museum für Zeitgenössische Kunst der Universität São Paulo das einzige öffentliche Universitätsmuseum des Landes ist und das „kritisches Denken“ eine unabdingbare Notwendigkeit in unserer geld- und mediendominierten Welt darstellt.

Cristina Freire, Foto: Melanie Vietmeier


Die Ausstellung „Vizinhos distantes. Arte da América Latina no Acervo do MAC USP“ ist noch bis zum 31.07.2016 im Museu de Arte Contemporânea da Universidade de S
ão Paulo zu sehen.

http://www.mac.usp.br/mac/expos/2015/vizinhos/home.htm

Prof. Dr. Cristina Freire ist Professorin an der Universität von São Paulo und Kuratorin am Museum für zeitgenössische Kunst der Universität (MAC USP). Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf zeitgenössischer Kunst, Archiven und Künstlernetzwerken insbesondere innerhalb Lateinamerikas. Momentan ist sie in verschiedene internationale Projekte involviert, wie „Connecting Art Histories“ des Getty Research Institutes oder „Glossary of Common Knowledge (GCK)“ der Moderna Galerija in Slowenien, des Van Abbemuseums in den Niederlanden, des Museums Reina Sofia in Spanien u.a.

Melanie Vietmeier ist Kunsthistorikerin und arbeitet im Rahmen des Forschungsprojektes „museum global?“ für die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Derzeit lebt sie in São Paulo, Brasilien, und wird in Zukunft für #32 regelmäßig aus Südamerika berichten.

 

 

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