Kunstsammlung NRW
Günther Uecker in der Ausstellung im K20, Foto: Andreas Endermann
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Weltschmerz strahlt – Günther Uecker und Japan

Mehr als 30 Jahre nach der letzten Ausgabe der legendären „Uecker-Zeitung“, die der Künstler von 1968-83 publizierte, machte sich die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zu Beginn dieses Jahres an eine Neuauflage. Kunsthistoriker aus allen Teilen der  Welt schrieben über Uecker, sein Werk und die Rezeption in ihrem jeweiligen Land. Sie trugen zu einer Textsammlung bei, die gemeinsam mit historischen Fotos des Künstlers eine neue Uecker Zeitung hat entstehen lassen.  Besucher der Ausstellung können ein kostenloses Exemplar dieser Zeitung mit nach Hause nehmen, zusätzlich erschienen ist eine für das Lesen auf digitalen Geräten optimierte Version.

Und nun, kurz nach dem 85. Geburtstag Ueckers im März, erreichte die Kuratorinnen der Ausstellung, Marion Ackermann und Stefanie Jansen, eine weitere Würdigung: Kazuhiro Yamamoto (*1958) lebt und arbeitet in Nasu-Plateau und in Utsunomiya und ist Hauptkurator am Tochigi Prefectural Museum of Fine Arts und stellvertretender Vorsitzender des ständigen Komitees der AICA (International Association of Art Critics) JAPAN.

Seinen Beitrag zur Uecker Zeitung veröffentlichen wir vorab auf #32.



Weltschmerz strahlt – Günther Uecker und Japan
Von Kazuhiro Yamamoto

Laut Günther Ueckers Biografie im Katalog der Ausstellung Der geschundene Mensch, die 2004 in Japan stattfand, veranlasste ihn die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl zu seinen 1986 entstandenen Werken Aschebilder und Aschemensch. 1987, heißt es dort weiter, hätten er und seine Studenten das Max-Planck-Institut für Kernphysik und die Gesellschaft für Strahlen und Umweltforschung in München besucht. Diese Tatsachen beeindrucken vor allem die Menschen in Japan, die das große Erdbeben im Osten Japans, die damit zusammenhängenden Tsunamis und die anschließende Katastrophe im Daiichi Kernkraftwerk in Fukushima erleben mussten.

Ueckers Werke, die sich mit der Aufdeckung der in der menschlichen Gesellschaft latent vorhandenen Krisen befassen, wurden der Welt 2004 als eine bildhafte Darstellung von Krisen aus Sicht eines Künstlers präsentiert. Diese Uecker-Ausstellung, die größte, die bislang in Japan stattfand, wurde begierig erwartet und hoch gelobt. Doch wie viele Besucher waren imstande, den Weckruf in Ueckers Kunst zu „hören“, der uns vor drohenden Krisen warnte? Und so waren wir hilflos, als wir am 11. März 2011 um 14:46 Uhr mit jenem verhängnisvollen Augenblick konfrontiert wurden.

Dieselbe Ausstellung war einen Monat nach 9/11 in Litauen eröffnet worden. In seiner Eröffnungsrede meinte Uecker: „Mein Wunsch ist es, nach Möglichkeiten eines Dialogs zwischen Menschen zu suchen, die unser Misstrauen wecken oder die einen anderen religiösen Hintergrund haben, um mich der Herausforderung zu stellen, Intoleranz zu überwinden und den Frieden zu sichern.“ Und bei einer Galerie-Ausstellung ein Jahr später in Berlin sagte er: „Das Werk mit dem Titel Dialog zeigt die Worte der Friedensboten aus der Bibel und dem Koran, die einander als Paar gegenüberstehen.“

Ueckers Haltung gegenüber dem Karma der Menschen kommt im Titel der bereits erwähnten Ausstellung Der geschundene Mensch zum Ausdruck, die an verschiedenen Orten in Japan zu sehen war und auf englisch Man’s Inhumanity hieß. Obwohl sowohl der Begriff „Mensch“ als auch der Begriff „man“ sich auf Menschen bezieht, ist der deutsche Titel eine passivische Konstruktion, bei der der Mensch misshandelt wird. Im englischen Titel hingegen erscheint „man“ als derjenige, der unmenschlich handelt. Die japanische Übersetzung erfolgte in einem literarischen Stil, der beide Konnotationen enthält und impliziert, dass Misshandlung und Unmenschlichkeit nicht das Ergebnis eines individuellen menschlichen Aktes sind, bei dem Täter und Opfer sich voneinander unterscheiden, sondern dass jeder von uns beides, sprich Täter und Opfer zugleich ist.

Ueckers Aufschrei war bereits ein Jahrzehnt vor dem 11. Dezember 2001 erfolgt. Sein Titel Verletzungen des Menschen durch den Menschen ist kein Ausdruck von etwas, das im 21. Jahrhundert entstand, als jeglicher Anschein einer alltäglichen Sicherheit seit Langem in sich zerfallen war. Sensible Künstler hatten schon lange den Schmerz gespürt, den die Entführung von Passagierflugzeugen durch Terroristen mit sich bringen würde, und die Kernschmelze des Reaktors in Fukushima war uns schon vor dem tatsächlichen Eintritt der Ereignisse vor Augen geführt worden. Ueckers Einsicht in die Situation ließ sich anhand seiner Verwendung von Nägeln in Kunstwerken ausdrücken, ein Material, das ein sinnlicher Ausdruck sowohl des Zufügens als auch des Zugefügt-werdens von Schaden, sprich der Natur des Handelns und der Natur des Erleidens ist. Der Nagel bringt diese Dichotomie der Bedeutungen, des Schöpfens und des Zerstörens, zum Ausdruck. In unserem Alltag sind Nägel omnipräsent, und Uecker bedient sich ihrer formalen Eigenschaften – dünn und lang, hart, spitz, in einem dunklen Metallton schimmernd – ebenso wie der Tatsache, dass sie verwunden können.

Während der Satz „Wasser und Sicherheit sind gratis“ bis vor Kurzem die vorherrschende Denkweise der japanischen Gesellschaft zum Ausdruck gebracht hätte, haben wir uns inzwischen in ein Land verwandelt, in dem das Fernsehen, die Zeitungen und das Internet über Terrorismus, Entführungen, Umstrukturierung, Mobbing, Kindesmissbrauch, Menschenraub und Katastrophen in Kernkraftwerken berichten, alles Dinge, die Teil unseres Alltagslebens geworden sind. Der in Verletzungen des Menschen durch den Menschen ertönende Klang – Günther Uecker schlägt auf die Nägel und beklagt so die Heraufkunft einer apokalyptischen oder endzeitlichen Welt – ist etwas, dem wir hier in Japan einen möglichst lauten Widerhall verschaffen müssen.


Übersetzung aus dem Englischen: Nikolaus G. Schneider


Dieser Text wird nachträglich in die digitale Version der Uecker Zeitung aufgenommen werden. Die digitale Zeitung ist als pdf optimiert für die Lesbarkeit auf digitalen Endgeräten.

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