Kunstsammlung NRW

Kunst als Projektionsraum der Utopie

Cécile Girardeau hat die Ausstellung "Unter der Erde. Von Kafka bis Kippenbeger" im K21 Ständehaus mehrere Wochen als Projektassistentin begleitet - für #32 beschreibt sie die Rolle der Utopie in der Kunst.

Gegenwärtig beobachtet man wachsendes Interesse an einer Epoche, in der die Avantgarde-Künstler absoluten Glauben in die Fähigkeit ihrer Kunst setzten, die Welt radikal und vollständig umzugestalten. Tatsächlich ist das Thema Utopie zurzeit Gegenstand zahlreicher Ausstellungen in aller Welt. Welche Fragen geben uns die künstlerischen Utopien auf, während doch der Begriff Fortschritt (in Geschichte, Kunst, Politik ...) eine beispiellose Krise erlebt, und was hallt in ihnen nach?

Die Kunst der Avantgarden des beginnenden 20. Jahrhunderts vollzog einen bewussten Bruch mit der Vergangenheit und verstand sich als Ferment einer besseren Zukunft. In ihren Manifesten begnügten sich die künstlerischen Avantgarden (Futurismus, Suprematismus, Surrealismus ...) nicht damit, die alte Ordnung aufzukündigen, sondern wollten auch Neues begründen. Sie ernannten den Künstler zu demjenigen, der sagen kann, was Kunst zu machen bedeutet. So verstanden, hatte die Kunst auch einen allumfassenden Auftrag, der der gesamten Menschheit galt. Nach dieser Logik »sollen Ästhetisierung der Wirklichkeit und Verwirklichung der Ästhetik Hand in Hand gehen« (1), wie Régis Debray es formulierte.

Dies mündet nun in ein Modell der »Revelation/Revolution« (2) durch die Kunst, das auf drei notwendigen Voraussetzungen fußt: »dem Geschichtsoptimismus, dem spekulativen Idealismus und dem sozialen Engagement« (3). Dieses Modell schreibt sich demnach in eine Ordnung der Zeit ein, in der man der Zukunft als einer Transzendenz entgegensieht.


Das Licht aus der Zukunft

Dem ausgehenden 18., dem 19. und 20. Jahrhundert entspricht ein Geschichtlichkeitsregime, bei dem das Licht aus der Zukunft kommt und Gegenwart wie Vergangenheit erhellt – so die These, die François Hartog in seiner 2003 veröffentlichten Schrift Régimes d'historicité. Présentisme et expérience du temps entfaltet (und der zufolge die Arten, diese Geschichtlichkeit zu erfahren und zu denken, die Weisen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu gliedern, über die Epochen hinweg variieren). Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusehends zu Bruch gegangen, sei dieses Geschichtlichkeitsregime abgelöst worden durch ein Verhältnis zur Zeit, in dem die hypertrophierte Gegenwart zum einzigen Horizont wird: »eine omnipräsente massive Gegenwart, die keinen anderen Gesichtskreis mehr hat als sich selbst und dabei die Vergangenheit wie auch die Zukunft verfertigt, die sie benötigt« (4). Damit einhergehend ist der Siegeszug der Ungewissheit, des Individualismus wie auch der Identität zu beobachten.

Wie lässt sich hiernach die Rolle der Utopien in der Kunst auffassen? Dort wo – um Reinhart Koselleks Problembeschreibung aufzugreifen – der »Erfahrungsraum« in eine beispiellose Spannung zum »Erwartungshorizont« getreten ist, scheint uns immerhin die Kunst zu gestatten, die Utopie auf wieder erneuerte Weise wahrzunehmen.


Kunst als zeitgenössischer Weg zu Erkundung von Utopie

Glaubte man gern, die Utopien hätten einen Seitwärtsschritt vollzogen und sich auf die neuen Kommunikationstechnologien (Internet, soziale Netzwerke ...) verlegt, die Zeit und Raum aufzuheben scheinen und die Bedingungen für neue Gemeinschaftsformen, ja für revolutionären Zusammenhalt (Rolle der sozialen Netzwerke bei den arabischen Frühlingen) oder soziale und ökonomische Bindung (man denkt etwa an Bernard Stieglers Modell der Beteiligungsökonomie) schaffen können, so haben diese Technologien sich indes häufig als kontra-utopisch oder trivial erwiesen, dienten sie doch Überwachungsinteressen (siehe die von Edward Snowden enthüllte Affäre) oder wirtschaftlichen Gewinnbestrebungen (Software, mit der sich anhand der gesammelten Daten von Internet-Nutzern gezielt Werbungen platzieren lassen). Somit bilden die neuen Technologien weniger das Antlitz der Utopie und Ubiquität als vielmehr den hypertrophierten Spiegel der menschlichen Gesellschaft, so wie wir sie kennen, und dürften insofern die Kunst als zeitgenössischen Weg zur Erkundung der Utopien keineswegs disqualifizieren – ganz im Gegenteil.

Gegenläufig zur Unmittelbarkeit der neuen Technologien hat die Kunst das Thema Utopie immer wieder nach ihren eigenen Regeln neu besehen – und dieses übt nach wie vor eine starke Faszination auf Künstler und Publikum aus. Dabei nähern sich ihm die heutigen Künstler jedoch auf eine vielleicht etwas distanziertere Weise als ihre Vorgänger in den Avantgarden. So präsentierte Emilia Kabakov die Installation, die bald im Grand Palais in Paris zu sehen sein wird, mit den Worten: »Vor ein paar Jahren wurden wir gefragt, ob wir glaubten, dass die Kunst die Politik beeinflussen könne. Wir antworteten, nein, das glaubten wir nicht. Dieser Meinung sind wir nach wie vor, aber in all den Jahren haben wir mit Ideen gearbeitet, die um das Imaginäre und die Utopie kreisen. Und wir sind tief überzeugt, dass die Kunst, die einen großen Platz in unserer Kultur einnimmt, die Art, wie wir denken, träumen, handeln und überlegen, verändern kann. Sie kann unsere Lebensweise verändern. (5)


"Der weiße Abgrund Unendlichkeit" und "Unter der Erde"

Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen eröffnet in Kürze zwei Ausstellungen, bei denen die Utopie einen Leitgedanken bildet. Die eine versammelt rund um das Thema der in der Farbe Weiß gegebenen Unendlichkeit und Transzendenz die drei Väter der Abstraktion Malewitsch, Mondrian und Kandinsky; die andere, ihr dunkles Gegenstück, handelt von der unterirdischen Welt und zieht uns hinab in die chthonischen Tiefen mit ihren vielschichtigen Resonanzen.

Diese beiden – und weitere weltweit zu ähnlichen Themen stattfindende – Ausstellungen sind meines Erachtens ein Zeichen dafür, dass die Kunst in unserer Epoche noch immer etwas zur Utopie sagen kann und muss, versammeln sie doch Werke, die allesamt mögliche Projektionsflächen in Richtung auf ein imaginäres Andernorts bilden. Als Projektionsraum und weil sie unseren Geist andere Möglichkeiten ahnen lässt, bewahrt sich die Kunst die Kraft, die Utopie zur Sprache zu bringen.

Als »latente Figur, die im Zustand des Möglichen verharrt« (6), lässt der Inhalt des utopischen Werks sich jedoch nur schemenhaft ersehen und bleibt für immer von unserer eigenen Wirklichkeit getrennt. »Mein Fassungsvermögen und meine Urteilskraft tappen im Blinden, schwanken, straucheln und stolpern; und selbst dann, wenn ich so weit gegangen bin, als ich gekonnt habe, so hab' ich mir doch niemals selbst ein Genügen getan. Ich sehe wohl immer vor mir sich das Feld öffnen; aber es liegt noch beständig in einem Nebel, den ich nicht durchdringen kann«, schrieb Montaigne* in seinen Essays, und Louis Marin hat dem hinzugefügt: »Dieses umwölkte jenseitige Land am Rande des Gesichtskreises der Geschichte der Menschen und ihrer Gesellschaft erahnen zu lassen, leistet die utopische Fiktion in den unbewegten Gemälden, und bringt es entsprechend den Befürchtungen und Hoffnungen, den Sehnsüchten, Träumen und Ängsten einer historischen Epoche zur Darstellung.« (7)

Von Cecile Girardeau

(Aus dem Französischen von Stefan Barmann)
 

 

(1) Régis Debray, »La fin des manifestes?«, in: Journées esthétiques de Mirmande, Juni 1994.

(2) Ebenda.

(3) Ebenda.

(4) François Hartog, Régimes d'historicité. Présentisme et expérience du temps, Paris, Seuil 2003.

(5) Emilia Kabakov, Internetseite der Monumenta, www.grandpalais.fr/fr/article/letrange-cite

(6) Louis Marin, »La Fiction poétique de l'utopie«, in: Cinéma et Littérature, Valence, Centre de recherche et d'action culturelle 1989, Nummer 7: Utopies, S. 13.

(7) Ebenda.

* Michel de Montaigne, Essays (Übers. v. J.J.C. Bode), Bd. 1, Kap. 4, zit. n. http://gutenberg.spiegel.de/buch/6733/4

Cécile Girardeau studiert an der Institut National du Patrimoine in Paris und hat die Ausstellung „Unter der Erde. Von Kafka bis Kippenberger“ als Projektassistenz zwei Monate lang begleitet. Sie lebt und arbeitet in Paris.

Mehr Informationen zu den Ausstellungen "Kandinsky, Malewitsch, Mondrian - Der weiße Abgrund Unendlichkeit" und "Unter der Erde. Von Kafka bis Kippenberger" auf der Website der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.