Kunstsammlung NRW
Wiebke Siem, Foto: Wilfried Meyer
artists, live

„Die Leute fragen immer, ob sie meine Skulpturen anfassen dürfen.“

Wiebke Siem über ihr erstes Werk, in dem der Betrachter selbst zum Künstler wird.


In Reihen aufgestellte Schuhspanner, Spazierstöcke und Holzlöffel, an denen Finger aus Wäscheklammern stecken, Vasen und Schalen in den schönsten Formen. Allesamt sind diese Alltagsgegenstände, die die Bildhauerin Wiebke Siem im Labor im K20 versammelt hat, aus Holz. Für die Kunstsammlung hat sie in den vergangenen sechs Monaten eine partizipative Installation entwickelt. Die Besucherinnen und Besucher sind aufgefordert, aus den hölzernen Einzelteilen Figuren zusammen zu setzen und damit selbst künstlerische Entscheidungen zu treffen. Dabei ist keineswegs gesagt, dass alle Figuren aus Kopf, Rumpf, zwei Armen und zwei Beinen bestehen müssen. Auch völlig andere Konstellationen sind denkbar – möglich durch an den Seiten angebrachte Haken und Ösen, die sich flexibel ineinander hängen lassen.

Während des Aufbaus hat sich Wiebke Siem bei den ersten „Figurproben“ über die Schulter schauen lassen. Ein Interview für #32 von Alissa Krusch

#32: Liebe Wiebke Siem, hier im Labor sehen wir wunderbar abgeschliffene hölzerne Utensilien. Sie haben die ursprünglich zum Teil farbigen und ganz unterschiedlichen Objekte auf Flohmärkten und im Internet über Monate zusammen getragen. Wie sahen die Stücke vorher aus?

WS: Vieles war alt, nicht uralt, aber alt. Schalen etwa aus den 60er Jahren, was man so im Haushalt hat. Ich habe sie abgeschliffen und gebeizt, zum Teil auch gebleicht. Die Oberfläche habe ich bei allen Objekten in die gleiche „Unlackiertheit“ gebracht. So hat alles einen Werkstattcharakter, es soll nicht fertig wirken, aber auch nicht roh aussehen. Und es bleibt offen, was es sein könnte.


#32: Welche Wirkung haben die Objekte jetzt, wo sie in eine völlig andere Funktion überführt sind?

WS: Man fragt mich immer, warum ich die Objekte nicht belasse, wie sie sind. Dann würde aber der Charakter von Skulptur nicht entstehen. Es soll zusammen wachsen.


#32: Als Sie von der Kunstsammlung gefragt wurden, ob Sie eine Installation mit partizipativem Charakter realisieren würden, haben Sie erst einmal die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen. Was hat Sie bewogen, sich trotzdem auf dieses Projekt einzulassen?

WS: Ja, das ist wohl das erstes Mal, dass ich so etwas mache. Ich habe zwar schon einmal eine Performance gemacht. Oder 1996 im Künstlerhaus Bethanien mein Wohnatelier in der Ausstellung gezeigt. Aber das hier ist etwas anderes. Es ist mir am Anfang etwas auf die Nerven gegangen – "och nee, ausgerechnet etwas zum Mitmachen…" [lacht]. Ich habe an verschiedenen Varianten gearbeitet, Kleidungsstücke zum Anziehen, aus Stoff oder Filz und auch Papier. Zu guter Letzt bin ich zum Nahestehenden zurückgekehrt. Die Arbeit ist aus der Erfahrung entstanden, dass Leute, die meine Ausstellungen besuchen, immer fragen, ob man die Skulpturen anfassen darf. Jetzt sage ich: „Macht doch einfach mal!“

Installation im K20, Foto: Achim Kukulies


#32: Ihre Arbeit wird sich über die kommenden fast fünf Monate immer wieder verändern, ohne dass Sie darauf Einfluss nehmen. Was glauben Sie, passiert mit der Zeit?

WS: Was passieren wird, das weiß ich nicht. Die Menschen sind sehr unterschiedlich. Vielleicht bleiben sie nur stehen und gucken aus Respekt vor dem Künstler. Vielleicht kommt einer und meint es ganz ernst, macht sich Gedanken, vielleicht beschäftigt er sich vorher mit Wiebke Siem. Ein anderer aber macht es ganz flapsig und stellt völlig andere Konstellationen her... ich kann es nicht sagen, es wird interessant!


#32: Viele ihrer Werke hängen von der Decke. In der Sammlungspräsentation im K20 erwartet die Besucher seit wenigen Tagen die neuste Erwerbung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen: Ihre Skulptur „o.T.“ (2007), ein großes Auge aus einem Stoff, der an einen Herrenanzug erinnert. Stoff spielt in vielen ihrer Arbeiten eine Rolle…

WS: …ja, die Beschäftigung mit Stoff kommt immer wieder zurück. Jetzt habe ich eine längere Zeit mit Holz gearbeitet, aber es ist immer ein hin und her, nach einer gewissen Zeit arbeite ich wieder mit Textil.


#32: Woran arbeiten Sie aktuell?

WS: Mein jüngstes Projekt ist Kunst am Bau für einen Sammler in Nürnberg. Ich plane dort auch große Hängeskulpturen, vielleicht werden sie aus Kupfer sein, aber das wird man sehen. Früher habe ich mich öfter beworben, mich interessiert dieses Thema. Aber Wettbewerbe sind nicht so mein Ding. Jetzt ist es ein direkter Auftrag, das freut mich. Und dann bereite ich auch eine Einzelausstellung für das TRAFO in Stettin in Polen vor.


#32: Und zu guter Letzt: Aus dem Labor blickt man auf Teile unserer Sammlung der klassischen Moderne, das heißt, Ihre Arbeit ist direkt in die Sammlung eingefügt. Gibt es ein Werk in unserer Sammlung, das Sie  – obwohl wir im K20 vorrangig Gemälde und nur vereinzelt Skulpturen zeigen – besonders mögen, zu dem Sie einen besonderen Bezug haben?

WS: Ich muss gestehen [lacht], so genau weiß ich gar nicht, was wo hängt. Aber ja, es gibt Gemälde von Magritte und von Max Ernst, auch die Skulpturen, die sind ganz wichtige Inspirationen für mich. So können schöne Verbindungen entstehen. Meine Skulpturen erinnern ja manchmal an die frühe Moderne, auch von der Wahl des Materials her. Zum Beispiel an die Marionetten von Sophie Taeuber-Arp oder die Bauhausbühne. Diese Künstler waren immer wichtig für mich, trotzdem mache ich meine Kunst in einer anderen Zeit, in der alles nicht mehr so selbstverständlich ist – die Kunstszene ist viel größer geworden. Auch in der Kunst findet eine Globalisierung statt. Was mich auch sehr interessiert, ist die außereuropäische Kunst. Ich sammele auch ein bisschen, etwa Skulpturen aus Afrika. Mich interessiert an ihnen der Formenkanon – und die Benutzbarkeit.

 

Die Ausstellung „Der Traum der Dinge“ von Wiebke Siem ist noch bis zum 19.06.2016 geöffnet.

Wer sich näher für das Werk der Künstlerin, die 2014 mit dem renommierten Kaiserring in Goslar ausgezeichnet wurde, interessiert, wird u.a. in den jüngsten Publikationen, etwa dem gemeinsam vom Mönchehaus Museum in Goslar und dem Wilhelm Lehmbruck Museum in Duisburg herausgegebenen Katalog fündig. Dort sind auch viele ihrer weniger bekannten Zeichnungen abgebildet. Diese stellte die Künstlerin zuletzt kurz vor Weihnachten 2015 bei Lothar Schirmer in München aus.