Matineé am Sonntag: Ein Rückblick auf die Auslese mit Stefan Weidle am 2. August 2015

Für #32 blickt Kuratorin Maria Müller-Schareck auf die 22. Veranstaltung der Literaturreihe zurück.

Bei der 22. Ausgabe des Literaturprojekts "Auslese - Bücher für die Sammlung" war der Lektor, Übersetzer und Verleger Stefan Weidle zu Gast. Seinen Verlag gründete Weidle 1995 in Bonn, wo er seither mit einem kleinen Team etwa ein Dutzend Neuerscheinungen pro Jahr ediert: Neben Wiederentdeckungen der Werke deutschsprachiger Schriftsteller, die 1933 ihre Heimat verlassen mussten, sind es Romane und Erzählungen junger Autoren aus aller Welt, gelegentlich Kunstkataloge und jährlich zwei (mit Unterstützung des Landes Nordrhein-Westfalen) neu übersetzte literarische Werke französischer Romanciers. Seine Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern ist eng, wovon nicht zuletzt ungewöhnlich gestaltete Buchtitel zeugen. Auf die Gestaltung seiner Bücher legt Weidle äußersten Wert, was sowohl der Augenschein bezeugt, als auch die zahlreichen Auszeichnungen, die er und der Gestalter Friedrich Forssmann erhalten haben. Stefan Weidle hat klare Prinzipien: Er verlegt nur Texte, die ihn faszinieren und bewegen. Es sind ausnahmslos Bücher, die er selber kaufen würde, publiziert für neugierige und erfahrene Leser, für Menschen, die Sinn für die Schönheit von Papier, Typografie und sorgfältige Gestaltung haben. Mit großem Engagement kämpft Weidle für das Weiterleben, für eine Zukunft des gedruckten Buches.

Den Zuhörern, die sich am Sonntagmorgen zahlreich im Schmela Haus eingefunden hatten, stellte er seine 15 ausgewählten Texte sowie deren Autoren mit profundem Wissen und mitreißender Begeisterung vor. Besonders eindrücklich sprach er von den kosmologischen Visionen in Texten von Gustave Flaubert und Thomas Mann, von Hermann Essigs sezierender Beschreibung der Kunstszene im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts (Der Taifun, 1919), von Octave Mirbeaus (628-E8) "Autofiktion", dem ersten Bericht über eine Reise im Automobil, die den Autor 1905 am Steuer eines "Charron" von Paris über Brüssel nach Holland und an die Ufer des Rheins führte. Er las die Passage, in der Heimito von Doderer seine Bühne der Welt, die Strudlhofstiege beschreibt − dieser Roman zählt zu den besonders häufig gelesenen und geliebten Büchern in Stefan Weidles umfänglicher Bibliothek. Neben vielen anderen Titeln stellte er schließlich Nino Haratischwilis beeindruckende Familiensaga "Das achte Leben (für Brilka)" vor, in der die junge Autorin facettenreich und äußerst bewegend die wechselhafte Geschichte Georgiens von 1900 bis ins 21. Jahrhundert hinein erzählt.

Die vollständige Liste der mitgebrachten Titel finden Sie auf der anhängenden Liste.

Schonmal vormerken: Auslese Nr. 23 am 1. November 2015, 12 Uhr im Schmela Haus mit der Schauspielerin Lena Stolze.

Die Leseliste von Stefan Weidle:

Thommie Bayer: Vier Arten, die Liebe zu vergessen, Piper Verlag, München 2012

Thomas Bernhard: Alte Meister, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1985

Louis Paul Boon: Abel Gholaerts, Verlag Peter Silinka, Ravensburg 1990

Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege (1951), C.H. Beck, München 1995

Hermann Essig: Der Taifun (1919), Weidle Verlag, Bonn 1997

Gustave Flaubert: Die Versuchung des heiligen Antonius (1874), Zürich 1979

Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka), Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014

A.F.Th. van der Heijden: Unterm Pflaster der Sumpf, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2003

Albrecht Schaeffer: Helianth (1948), Weidle Verlag, Bonn 1995

Thomas Mann: Joseph und seine Brüder (1943), S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007

Octave Mirbeau: 628-E8 (1907), Weidle Verlag, Bonn 2013

Paul Scheerbart: Glasarchitektur (1914), Europäischer Literaturverlag, Bremen 2013

Arno Schmidt: Abend mit Goldrand, Arno Schmidt Stiftung, Haffmans Verlag, 1993

Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts. Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis, List, Berlin 2014

Kalevala. Eine Sage aus dem Norden, nacherzählt von Tilman Spreckelsen, illustriert von Kat Menschik, Verlag Galiani, Berlin 2014

Text: Maria Müller-Schareck

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