Kunstsammlung NRW

Von „Meerrettich“ bis „Ziegenbock“: Marion Ackermann über Wassily Kandinskys Bezeichnungen der Farbe Weiß

01.04.2014

Es gibt unzählbar viele Weißtöne und allein schon mehr als 1000 Weißpigmente. Wie kann man all diese Erscheinungsformen von Weiß eigentlich in unserer Sprache benennen? Wassily Kandinsky hat dafür eine originelle Lösung gefunden.

Schreiben war Kandinsky immer sehr wichtig, oft ging es dem Gestalten voraus. Obwohl von russischer Herkunft, schrieb er in deutscher Sprache, auf eine direkte und unkonventionelle Art. Er verfasste theoretische Texte, Gedichte, Bühnenkompositionen. „Weiß“ kommt darin oft vor, doch nicht viel häufiger als andere Farbbezeichnungen. Erst beim mehrfachen Lesen fällt das Ungewöhnliche auf: In den Texten sind erstaunlich viele Gegenstände benannt, die unterschiedliche Vorstellungen von Weiß evozieren.

Allein in dem Gedichtband „Klänge“ von 1913 sind – oft in mehrfacher Wiederholung - genannt: »Meerrettich«, »Birke«, »Birkenwäldchen«, »scheckiges Pferd (Apfel)«, womit der Apfelschimmel gemeint ist, »Ziegenbock«, »Zähne«, »Papier«, »Wolke«, »Blumenkohl«, »Schaum«, »Schnee«, »Glatteis«, »Kreide«, »Leim«. Darüber hinaus kombiniert Kandinsky assoziativ »weiß« als Farbadjektiv mit verschiedenen Substantiven: »weißer Vorhang«, »weißer Pfad«, »weißer Sprung«, »weißes Papier«, »weißes Pferd«, »grauweiße Häuser«, »Häuser schmuckweiß«, »weiße Tafel«, »weiße Gießkanne«, »weiße Mauer«, »weißer Bogen«, »weißer Mensch«, »weiße 3«, »rabenschwarzes Pferd, das immer weißer wird durch weißen heißen Schaum«, »weiße Lippen, wie mit Kreide angestrichen«, »weißes Gesicht«, »kleine weiße Blüten, die wie flache Tellerchen aussahen«, »das weichfellige weiße Spielhäschen«.

Oder nehmen wir seine autobiografischen „Rückblicke“, auch von 1913. Mit dem Satz »Alles ›Tote‹ erzitterte« beschreibt Kandinsky die Fähigkeit des Künstlers, die eigentlich tote Materie, die abgelegten Dinge durch das »abstrakte Sehen« zum Leben zu erwecken – sei es einen weißen Zigarettenstummel in der grauen Asche oder einen weißen Hosenknopf in der dunklen Pfütze. In einer anderen Beschreibung stellt er dar, wie er als Kind, dem seiner Auffassung nach jeder Gegenstand zum Erlebnis wird, die weiße Bastschicht von Ästen freigelegt habe – »zum Lecken verlockend« –, und thematisiert damit die synästhetische Wirkung.

In der Imagination des Lesers entstehen in den Worten Kandinskys jeweils unterschiedliche Vorstellungen von der Erscheinungsfarbe dessen, was Weiß genannt wird. Ich freue mich auf Ihre Reaktionen und Gedanken, wenn Sie durch unsere Ausstellung im K20 gehen und die unterschiedlichen Weißtöne in den Gemälden miteinander vergleichen. Wie würden Sie Ihre Beschreibung von Weiß in Worte fassen?

Marion Ackermann ist Direktorin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen und Kuratorin der Ausstellung „Kandinsky, Malewitsch, Mondrian –  Der weiße Abgrund Unendlichkeit“. In ihrem Beitrag im gleichnamigen Ausstellungskatalog untersucht sie die Farbe Weiß im Werk der drei Künstler. (erscheint im Verlag Snoeck, 232 Seiten, Museumsausgabe zum Preis von 39 Euro)

Link zur Ausstellung „Kandinsky, Malewitsch, Mondrian –  Der weiße Abgrund Unendlichkeit“