Kunstsammlung NRW

Ein Miró für 9,05 €

In der Ausstellung Miró. Malerei als Poesie verbirgt sich eine kleine Sensation. Erstmals wird hier eine bisher unbekannte Zeichnung Joan Mirós präsentiert, die jahrzehntelang ohne Kenntnis ihrer Bedeutung in den Beständen einer Unternehmenssammlung geschlummert hat. Erst als sich ein neugieriger Privatsammler auf Spurensuche begab, kam die Überraschung ans Licht. Die Wiederentdeckung dieses Werks liest sich wie ein Kunst-Krimi auf den Spuren Joan Mirós, den es sich lohnt zu erzählen.

Von Valerie Hortolani für #32.

Auf den ersten Blick wirkt das Werk inmitten der vielen großformatigen Gemälde eher unscheinbar. Ein Blatt von mittlerem Format, 46,8 x 62,3 cm groß, das Papier gelblich. Bei genauerem Hinsehen erkennt man jedoch eine von Miró präzise gestaltete Zeichnung mit der Inschrift „Et les seins mouraient“ – „Und die Brüste starben“. Die Textzeile zeugt vom surrealistischen Spiel mit poetischen Wortgebilden, dem sich auch Miró in den 1920er Jahren gerne anschloss. Sie evoziert vielfältige Assoziationen, während sie einen rationalen Sinn zugleich verunklärt. Pfeil, Brust, Frau, Stern – auch auf visueller Ebene treibt Miró ein solches Spiel um Verweis und Chiffre. Das Werk ist aber nicht nur für das Thema der Ausstellung, in der Mirós Auseinandersetzung mit der Dichtung im Fokus steht, von großer Bedeutung, sondern trägt darüber hinaus eine besondere Entdeckungsgeschichte in sich.


Schnäppchen mit Überraschungswert

Das Werk ist die Leihgabe eines Privatsammlers aus Nordrhein-Westfalen, der gerne anonym bleiben möchte. Ohne dessen unermüdlichen Einsatz würde die Zeichnung vermutlich noch immer ein unbekanntes Dasein fristen. 

Bevor das Blatt 2003 in den Besitz des Sammlers kam, war es lange Teil der Firmensammlung des Wuppertaler Unternehmers Dr. Kurt Herberts (1901-1989). Der Lack- und Farbenfabrikant Herberts hegte eine große Leidenschaft für die Kunst und trug eine umfangreiche Sammlung von Gemälden, Grafiken und Skulpturen ostasiatischer und moderner Kunst zusammen, darunter Werke von Wassily Kandinsky, August Macke, Ernst Ludwig Kirchner oder Emil Nolde. Während des 2. Weltkriegs setzte sich der Unternehmer für als "entartet" verfemte Künstler ein und sicherte ihnen mit künstlerischen Aufträgen ein Auskommen. So beauftragte er Willi Baumeister, Oskar Schlemmer oder Georg Muche mit der Gestaltung von Werbeentwürfen für sein Unternehmen und den Wuppertaler Architekten Franz Krause mit dem Bau der Villa Waldfrieden, die heute in Tony Craggs Skulpturenpark liegt. Dabei ging es Herberts nicht nur um die eigene Freude an der Kunst. Auch seinen Mitarbeitern gab er die Möglichkeit, Werke aus der Sammlung für den eigenen Arbeitsplatz auszuleihen. Herberts war der Überzeugung, dass die Nähe der Menschen zur Kunst sowohl ihren ästhetischen, als auch ihren kritischen Horizont schulen und so Individuum und Gemeinschaft gleichsam stärken könne.  

Als im Zuge einer Unternehmensübernahme 2003 Teile der Firmensammlung Herberts zum Verkauf standen, erwarb unser anonymer Sammler das Miró-Blatt zusammen mit einigen anderen druckgrafischen Arbeiten. Doch war das Werk nicht als Handzeichnung ausgewiesen, sondern wurde – in Unkenntnis des Verkäufers und des Sammlers – als grafische Arbeit für 9,05 € angeboten. Ein großer Irrtum, wie sich bald herausstellen sollte.

Foto: Kunstsammlung


Rekonstruktion einer Wiederentdeckung

Wie der Sammler berichtet, hatte er zunächst den Plan, das alte Papier für eigene chemische Experimente zu benutzen, doch gefiel ihm das Werk – zum Glück! – zu gut. Von seiner Neugier getrieben, nahm er die Suche nach der Bedeutung der Inschrift „Et les seins mouraient“ auf.

Er fand heraus, dass Miró eine Buchillustration mit dieser Inschrift für eine gleichnamige Publikation seines Dichterfreunds Benjamin Péret angefertigt hatte, die seinem Motiv zwar ähnelt, aber nicht identisch ist (erschienen bei Les Cahiers du Sud, 1929). Darüber hinaus befindet sich im Museu Coleção Berardo in Lissabon eine Zeichnung Mirós mit dieser Zeile aus dem Jahr 1927, deren Gestaltung sich aber stärker von den zwei anderen Entwürfen unterscheidet. Im Briefwechsel mit dem Museum stellte sich heraus, dass beide Werke auf demselben Papier gefertigt wurden, erkennbar an dem Wasserzeichen der Marke Canson & Montgolfier aus Vidalon-les-Annonay, einer der führenden Hersteller für Künstlerpapier im frühen 20. Jahrhundert. Wie sich zudem auf Skizzen im Besitz der Fundació Miró in Barcelona bestätigte, existieren insgesamt drei Bleistiftzeichnungen Mirós zum Thema „Et les seins mouraient“. Eine davon ist eindeutig eine Studie zum Werk im Besitz des Sammlers.

Konnte die Papierarbeit womöglich doch von Mirós eigener Hand stammen? Eine restauratorische Untersuchung im Labor gab schließlich letzte Sicherheit: So handelt es sich bei diesem Blatt keinesfalls um einen hochauflagigen Druck, sondern um eine einzigartige Tuschezeichnung Mirós, deren tatsächlicher Wert ein Vielfaches über dem einstigen Kaufwert liegt.

Foto: Kunstsammlung

Die Successió Miró, der Miró-Experte und Biograf Jacques Dupin und die ADOM (Association pour la Défense de l'oeuvre de Joan Miró), die das Miró-Werkverzeichnis betreut, zertifizierten dem Sammler schließlich im Frühjahr 2005 die Echtheit dieser Zeichnung.

Neue Erkenntnisse für die Miró-Forschung

Das Werk erlaubt uns einen Blick in die Werkstatt des Künstlers und hält wichtige Erkenntnisse für die Miró-Forschung bereit. So ist das Buch „Et les seins mouraient“ von Benjamin Péret, für dessen Frontispiz-Entwurf Miró die verschiedenen Skizzen und Zeichnungen anfertigte, nicht im Miró-Verzeichnis der Bücher aufgeführt. Wenn diese Kollaboration zwischen Dichter und Künstler aber bereits 1927 begonnen wurde, wie es die Datierung auf der Zeichnung nahelegt, dann könnte es sich hierbei sogar um eins der frühesten Buchprojekte Mirós überhaupt handeln. Zeitgleich nämlich entstanden die Illustrationen zu Lise Hirtz „Il était une petite pie“ von 1927 (erschienen bei Jeanne Bucher, 1928), die bislang als Mirós buchkünstlerisches Erstlingswerk gelten.

Was für eine Entdeckung! Trotzdem hinterlässt das Werk viele ungeklärte Fragen. Über welche Stationen gelangte das Blatt aus Mirós Atelier in die Firmensammlung Herberts? Zeugen die Einstichlöcher in den Bildecken von der nachlässigen (weil unwissenden) Befestigung an der Wand durch einen früheren Besitzer? Oder heftete Miró selbst die Zeichnung an seine Atelierwand, um sich von ihr zu neuen Kompositionen anregen zu lassen oder sie Besuchern zu zeigen? 

Foto: Kunstsammlung


Der Weg ins Museum  

Es verstrichen weitere zehn Jahre bis sich endlich die Gelegenheit für eine öffentliche Präsentation der Zeichnung ergab. Wieder einmal war es der Sammler, der die Initiative ergriff als er von der geplanten Miró-Ausstellung im K20 erfuhr. Wie hätte man auch sonst auf dieses Werk aufmerksam werden können, das sich nicht im Werkverzeichnis der Zeichnungen Mirós befindet? Im Frühjahr 2015 besuchten Papier-Restauratorin Nina Quabeck und ich den Sammler und hörten staunend von der abenteuerlichen Entdeckungsgeschichte dieses Blattes und von dem unermüdlichen Einsatz, mit dem der Besitzer seine Recherche weiterhin verfolgt.  

Für ihren ersten „großen Auftritt“ wurde an der Zeichnung in unserem Restaurierungsatelier eine sogenannte Rissschließungsmaßnahme durchgeführt und sie erhielt eine Rahmung. Nun ist sie frei im Passepartout montiert und kann so optimal zur Geltung kommen.

So sind wir besonders stolz, dass das Werk in unserer Ausstellung „Miró. Malerei als Poesie“ nun erstmals der Öffentlichkeit gezeigt werden kann, inmitten der vielen anderen echten Mirós. Als hätte es die ganze Zeit auf diesen Augenblick gewartet…



Zur Ausstellung

Die Ausstellung Miró. Malerei als Poesie, die Autorin Valerie Hortolani als Co-Kuratorin betreut hat, ist noch bis zum 27. September 2015 im K20 am Grabbeplatz zu sehen.

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