Kunstsammlung NRW
In der Restaurierungswerkstatt: Begutachtung der Rückseite des Werkes von Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), Foto: Kunstsammlung
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„Aber die Leinwand hat Gott sei Dank zwei Seiten“: Von der Restaurierung eines beidseitigen Gemäldes von Ernst Ludwig Kirchner

Der doppelte Kirchner. Die zwei Seiten der Leinwand heißt eine Ausstellung in der Mannheimer Kunsthalle, die sich bis zum 31.05.2015 dem Phänomen der doppelseitig bemalten Leinwände des expressionistischen Brücke-Künstlers Ernst Ludwig Kirchner widmet. Insgesamt sechzehn Werke sind hier ausnahmsweise nicht nur von vorn, sondern auch von ihrer Rückseite zu sehen. Ein Hauptwerk der Kunstsammlung ist auch dabei.

Restauratorin Anne Skaliks berichtet für #32 von der aufwändigen Reisevorbereitung.

 

Das Gesamtwerk von Ernst Ludwig Kirchner hat – Dank seiner frühen Umsiedlung in die Schweiz im Jahr 1917 – in großen Teilen überdauert. Wir kennen heute 1045 Werke, davon immerhin 138, die Kirchner von beiden Seiten bemalte. Fragt man nach dem Grund für dieses Vorgehen und liest ein wenig nach, stößt man schnell auf folgende Äußerung aus einem seiner Briefe von 1919: „Auch ich muss etwas sparen jetzt, und das Material ist sehr kostspielig geworden. Aber die Leinwand hat Gott sei Dank zwei Seiten“.

Eines dieser besonderen Bilder, Kirchners Zwei Frauen auf der Straße (1914), befindet sich seit 1981 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen: Die Straßenansicht bildet seit seiner Entstehung die Hauptseite. Dabei ist die heutige Rückseite mit dem Titel (Zwei) Badende in Wellen bereits 1912 entstanden. Die Badenden sind das eigentlich ältere Bild, aber vermutlich wurden sie nie gezeigt und fanden in der Geschichte insgesamt nur wenig Beachtung.

 

Kirchners „Zwei Frauen auf der Straße“ sind ein beliebtes Motiv der Sammlung im K20 am Grabbeplatz, Foto: Kunstsammlung
Kirchners „Zwei Frauen auf der Straße“ sind ein beliebtes Motiv der Sammlung im K20 am Grabbeplatz, Foto: Kunstsammlung


Vorgeschichte: Frühere Maßnahmen am Bild

Kirchners Maltechnik bedingte neben dem erwünschten Effekt der matten und leuchtenden, fast pastellig wirkenden Farben als „Nebenwirkungen“ sehr empfindliche Oberflächen und brüchige Schichten. Im Zusammenwirken mit der wechselvollen Geschichte der Bilder und gut gemeinten – aber aus heutiger Sicht falschen – Eingriffen führte dies häufig zu umfänglichen Schäden. Eine solche Maßnahme bestand für unser Düsseldorfer Bild in der Entfernung des originalen Keilrahmens und der Aufspannung auf einen neuen. Dabei wurden die Grundier- und Malschichten an den Bildrändern überdehnt, was zu unzähligen Brüchen und zu Abhebungen und Abplatzungen von Farbschollen führte – deutlich sichtbares Schadensbild der vorderseitigen Malerei. Wer dies wann tat ist uns leider unbekannt – sicher ist nur, dass es vor Eingang in die Sammlung stattgefunden hat.

Während das Hauptwerk bereits 2008 konserviert wurde, weil eine Reise zu einer Ausstellung in New York anstand, kam es ab 2013 zur Vorbereitung der Rückseite. Bisher erschien diese dem bloßen Auge bei den seltenen Gelegenheiten ihrer Begutachtung stets ausreichend stabil, Foto: Kunstsammlung


Ein näherer Blick auf die badenden Damen

Nach der Zusage für diese besondere Schau in Mannheim und später Davos galt es nun also, die badenden Damen auf der Rückseite näher zu untersuchen. Der Blick durch das Mikroskop offenbarte eine ganz andere, subtilere Schadensart als vorderseitig: die Schadstellen sind unauffällig, Lockerungen und Absplitterungen passierten im Mikrobereich. Zudem lässt das „Muster“ der – wie bereits an anderen Werken beobachtet – auf eine zeitweise unaufgespannte Aufbewahrung und teilweise Knicken des Bildes schließen. Dies erscheint dann plausibel, wenn man liest, dass Kirchner bemalte Leinwände in der Regel abgespannt und aufgerollt transportierte oder sich schicken ließ!

Mit dem bloßen Augen nicht sichtbar: Der Vergleich vor und nach der Festigung macht die fast pudrig wirkende Grundierung deutlich – in Ausbrüchen ist diese instabile Beschaffenheit in der Vergrößerung gut zu sehen. Kirchner leimte seine Bildträger nicht vor, was zu einem Absacken des Bindemittels aus der Grundierung führte. Die sehr dünne, magere Malfarbe fand hier keine solide Unterlage, Foto: Kunstsammlung

Entsprechend der winzigen Größe der Schäden musste die Festigung der Strukturen ebenfalls unter dem Mikroskop erfolgen – nur so kann man wirklich sehen, was man tut, und ob die gewünschte Stabilisierung auch erreicht wird. Punktuell wurde ein stark verdünntes Klebemittel eingebracht – in diesem Falle ein Kunstharz, das speziell für die Restaurierung getestet und weiterentwickelt worden ist. Festigungsproben zeigten: es dringt sehr gut ein und hinterlässt keinerlei Glanzstellen auf der matten Oberfläche. Die Grundierung wurde wieder verfestigt, die winzigen Farbschollen ließen sich vorsichtig niederlegen und wieder anbinden.

Ausstellungsaufbau in Mannheim, Foto: Kunstsammlung

Fragen der Präsentation: Was wollte der Künstler?

Zurück zur „Doppelseitigkeit“ und dem Umgang mit ihr: Zeitgleich zu den Festigungsarbeiten in der Restaurierung wurde ein Konzept zur Umsetzung der beidseitigen Betrachtbarkeit entwickelt – ein rückseitiger Blendrahmen, der formal und farblich dem (wohl originalen) Zierrahmen angepasst wurde und ebenfalls ein hochwertiges Museumsglas zum Schutz der Badenden trägt.

Wie war es ursprünglich gedacht? Kann zeitweise wirtschaftliche Not oder Materialknappheit tatsächlich der einzige Beweggrund sein, einen Bildträger zweimal zu verwenden? Schließlich geht mit dem Umspannen stets eine gewisse Schädigung des ersten Werkes einher.

Heute wissen wir, dass Kirchner selbst, der sein Œuvre immer wieder kritisch redigiert hat, scheinbar genügend Bilder fand, die er in der Rückschau – und erst recht zugunsten einer neuen Arbeit – verwarf. Dies machte er vielfach kenntlich, indem er verworfene Gemälde mit dem Titel der neuen, nun vorderseitigen überschrieb; in einigen Fällen übermalte er sogar die gesamte Fläche mit weißer Leimfarbe. Auch veränderte er Format und/oder Orientierung und schloss damit eine beidseitige Präsentation sehr entschieden aus.

 

Auf der Oberfläche der Badenden wurden während der Untersuchung in vielen Bereichen rote Linien aus Ölkreide entdeckt, Abbildung: Kunstsammlung

Während der Restaurierung neu entdeckt wurden roten Linien, sie können vage als „Durchstreichungslinien“ des Künstlers interpretiert werden – und scheinen in der Zusammenschau mit den genannten Methoden des „Ungültig-Machens“ stimmig. Des Weiteren ist das Bild wohl nicht vollendet worden: Kirchner baute seine Kompositionen in zwei Schritten auf, die erste Anlage mit stark verdünnter Ölfarbe, die Ausarbeitung mit kompakterer Farbe und leuchtenderen Akzenten. Dieser abschließende Schritt scheint bei den Badenden nicht zu Ende geführt.

Die Indizien sprechen also recht klar für das Verwerfen durch den Künstler. Würde es nun – streng betrachtet – nicht dem Künstlerwillen widersprechen, präsentierte man ein solches Bild dauerhaft beidseitig?


Von Mannheim zurück nach Düsseldorf

Wenn die Ausstellung in Mannheim und Davos zu Ende geht, kehrt das Bild in die Düsseldorfer Kunstsammlung zurück. Hier wird es wieder seinen angestammten Platz im K20 einnehmen. Bei der Frage nach der „richtigen“ Präsentation steht das Interesse an Ungewöhnlichem und Historischem versus die Künstlerentscheidung und den Respekt gegenüber derselben. So wird unser Werk nach der „zweigesichtigen“ Ausstellungstournee wieder “brav“ an die Wand gehängt werden und zwei Frauen schauen uns von der Straße her an – schade für die Badenden, jedoch eine konsequente Entscheidung mit Rücksicht auf Werkgenese und Werkintegrität.

 

Gemälderestauratorin Anne Skaliks, die die Stationen der Restaurierung für #32 zusammengefasst hat, ließ es sich auch nicht nehmen, das Kirchner-Werk nach Mannheim zu begleiten. Sie empfiehlt allen, die sich eingehender mit Kirchners doppelseitig bemalten Werken beschäftigen möchten, wärmstens den Ausstellungskatalog. Kirchners Maltechnik detailliert studieren kann man in: "Aufbruch in die Farbe. Ernst Ludwig Kirchner und das Neue Malen am Beginn des 20. Jahrhunderts." Zeitschrift für Kunsttechnologie und Konservierung, 27. Jahrgang 2013 Heft 1, Worms 2013.


Weitere Informationen zur Ausstellung

Kunsthalle Mannheim
06.02. bis 31.05.2015
http://www.kunsthalle-mannheim.de/de/aktuelle-ausstellungen/Kirchner

Kirchner Museum Davos
21.06. bis 08.01.2015
http://www.kirchnermuseum.ch/sites/de/home.html

 

Text: Anne Skaliks
Redaktion: Alissa Krusch